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Von: Bjarne Bock
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Dass die Miniserie „Baby Reindeer“ so durch die Decke gehen würde, hätten selbst die besten Netflix-Algorithmen kaum vorhersehen können. Das persönliche Werk des schottischen Stand-up-Komikers Richard Gadd hat einen Nerv getroffen.
Spoilerwarnung - diese Meldung kann Hinweise auf die Fortführung der Handlung enthalten!
Die meisten TV-Sender und Streamer sind heutzutage sehr darauf bedacht, bei neuen Serien jedes Restrisiko eines Zuschauerflops durch datengetriebene Entscheidungen zu minimieren. Man läuft jedem Trend hinterher, man adaptiert am liebsten schon bekannte Marken - wie Bücher, Filme oder neuerdings auch Podcasts und Videospiele -, und natürlich braucht man immer zumindest einen bekannten Namen vor der Kamera, der notfalls nur als Anheizer in den ersten paar Folgen mitspielt. Hier eine ganze Kolumne zum Thema Marktforschungsserien lesen, anhand der Beispiele „Space Force“ und „House of Cards“...
Das sind beides bekanntlich Titel der Plattform Netflix, die den vermeintlich besten Algorithmus für planbare Erfolgsserien entwickelt hat. Aber selbst in einem durchkalkulierten Bodensatz wie diesem wächst manchmal ein Pflänzchen willkürlich viel höher als erwartet. Die Rede ist von Baby Reindeer, das weder mit bekannten Stars noch mit einer großen Vorlage oder speziellen Trendthemen zum ersten großen Überraschungsh*t 2024 wurde. Seit der Premiere am 11. April stieg die Beliebtheit der Dramedy durch Mundpropaganda kontinuierlich an, sodass das „Rentierbaby“ kürzlich sogar den Spitzenplatz der Netflix-Charts erobern konnte.
In unserer Kritik zum Auftakt der Netflix-Serie „Baby Reindeer“ zeigten wir uns bereits vorsichtig optimistisch, dass der schottische Serienmacher Gadd mit seinem so persönlich geprägten Werk weit genug gehen könnte, um es richtig interessant werden zu lassen. Und genau so kam es nun, denn aus der vermeintlich unschuldigen Geschichte eines Mannes, der sich zu leicht in Lügen verstrickt hat, wurde eine brutal ehrliche Selbstoffenbarung mit schweren Triggerthemen wie sexuellem Missbrauch und Stalking. Eine sehenswerte Serie, bei der man froh sein kann, dass so viele sie schon gesehen haben!
„Baby Reindeer“ eskaliert mit jeder Episode
In unserem ersten Kritik, in der eben nur die erste der insgesamt sieben Folgen der Serie besprochen wurde, glaubten wir erkannt zu haben, dass es Gadd vor allem um die Frage gehe, inwiefern Künstler:innen selbstzerstörerisches Verhalten an den Tag legen müssen, um ihre eigene Seele wie ein Bergwerk für Inspiration abzubauen. Doch im Lauf der Zeit wird die Perspektive immer breiter und allgemein wichtiger. Als gelernter Stand-up-Komiker muss Gadd ohnehin eine besondere Observationsfähigkeit mitbringen, die seinem Werk nun eindeutig zugutekam. Ein zentraler Wendepunkt ereignet sich genau zur Hälfte der Miniserie...
In Episode 4 geht es plötzlich nicht mehr nur um die Stalkerin Martha, Emmy-würdig porträtiert von Jessica Gunning (The Outlaws), die so unvergleichbar neben der Spur ist, dass jedes Wort, das sie spricht oder schreibt, an Poesie grenzt, nein, plötzlich macht sich auch Gadd beziehungsweise sein Alter Ego Donny erstaunlich ehrlich. Wir tauchen ein in seine Vergangenheit, als noch erfolgloserer Nachwuchskünstler in Edinburgh, der unter die gefährlichen Fittiche seines Vorbilds Darrien (Tom Goodman-Hill) gerät.
„Baby Reindeer“ zeichnet die Grenzen zwischen besonderer Aufmerksamkeit, etwas zu viel Nähe und buchstäblichem Missbrauch so weich, dass man Darriens düstere Motive zwar kommen sieht und trotzdem überrascht ist. Mit seinem Mut, die eigenen Erfahrungen zu verarbeiten, ermöglicht es Gadd dem Publikum nachzuvollziehen, dass wirklich jede:r zum Opfer werden kann. Dieser wichtige Punkt wurde bei der #MeToo-Debatte vor allem von unreflektierten Männern gern ignoriert. Gadd engagiert sich auch im echten Leben für die britische Charity We Are Survivors, die männlichen Opfern sexueller Gewalt Hilfe anbietet...
Nicht nur Schmerz, sondern auch ganz viel Herz
Doch natürlich wäre „Baby Reindeer“ bei Netflix kein solcher Ausnahemeerfolg geworden, wenn Gadd nur seine ernsten Erfahrungen auf die Bildschirme gebracht hätte. Vor allem seine Beziehung zu den eigenen Eltern - wunderbar wütend gespielt von Mark Lewis Jones und Amanda Root - wärmt das Herz und bringt einen zum Lachen. Hier steht die simple und doch so wahre Botschaft im Zentrum: Ehrlichkeit löst alle Probleme im Leben, wenngleich zunächst eine Erstverschlechterung einsetzen mag!
Bei seiner Liebesgeschichte mit Teri (Nava Mau) kommt die Ehrlichkeit für Gadds fiktive Version Donny leider zu spät, doch auch daraus kann man wichtige Lehren ziehen. Besonders beeindruckend ist jedoch, wie nachsichtig und voller Empathie der für viele anfangs vielleicht schwer zu greifende Held auf seine Widersacherin Martha am Ende blickt. Wie er immer wieder die andere Wange hinhält, hat fast schon etwas Neutestamentarisches - nur den letzten Dreh, dass er nun selbst in der Situation des „Teebedürftigen“ landet, hätte man sich stilistisch vielleicht lieber sparen können.
Wir geben dieser beeindruckenden und beeindruckend erfolgreichen Netflix-Serie insgesamt vier von fünf Sternen!